PSSD Syndrom

Was ist PSSD?

PSSD ist ein arzneimittelinduziertes Syndrom, also ein komplexes Krankheitsbild, das durch Psychopharmaka ausgelöst werden kann und auch nach dem Absetzten des Medikaments fortbesteht.


Der erste Fallbericht ging 1991, also vor 30 Jahren, bei der britischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (Medicines and Healthcare products Regulatory Agency/MHRA) ein (D. Healy, 2020, S. 134).


PSSD bedeutet Post SSRI Sexual Dysfunction (auf Deutsch also etwa: Sexuelle Fehlfunktion nach SSRI). Der Begriff ist jedoch irreführend,



  • da die Symptome weit über eine sexuelle Dysfunktion hinausgehen können.


Bei PSSD handelt es sich also um ein Syndrom (also eine Kombination verschiedener Symptome), das neben dem sexuellen Bereich auch


  • den kognitiven Bereich (Wahrnehmung und Denken),
  • den emotionalen Bereich (Gefühle) und
  • den neurologischen Bereich (Nerven, Muskulatur etc.)


betreffen kann. Zum Beispiel treten neben sexuellen Funktionsstörungen häufig emotionale Abstumpfungsgefühle auf, die äußerst belastend sind.


Merke: PSSD ist weit mehr als eine SSRI-induzierte Erektionsstörung. Die Symptome sind oft so gravierend, dass sie die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. In der PSSD-Community kommt es daher regelmäßig zu Suizidfällen.


Betroffene erleben es oft so, als ob plötzlich ein Schalter umgelegt worden ist, der sie zu einem anderen Menschen gemacht hat. Sie fühlen sich plötzlich wie kastriert und/oder betäubt. Die meisten Betroffenen betonen, solche Gefühle zuvor nie gehabt zu haben.
 
Dennoch wird das Problem oft auf psychosomatische Ursachen zurückgeführt, was die Situation für Betroffene erschwert. Verblüffend ähnliche Langzeitfolgen sind auch von anderen Medikamenten, z. B. von Finasterid, einem Medikament gegen Haarausfall, oder von Isotretinoin, einem Aknemedikament, bekannt.

Wer ist betroffen?

Es sind sowohl Frauen als auch Männer unterschiedlichen Alters betroffen. In den wenigen deutschsprachigen Artikeln zu PSSD wird zum Teil behauptet, dass das Syndrom bei Frauen seltener bzw. gar nicht auftritt. Dies ist eine Fehlinformation. Derzeit ist es nicht möglich, Aussagen dazu zu treffen, ob Männer oder Frauen häufiger betroffen sind.

 

Erfahrungsgemäß haben Frauen eine größere Hemmschwelle, über eine sexuelle Dysfunktion zu sprechen, da das Thema in der therapeutischen Kommunikation quasi nicht vorgesehen ist.

 

Männer wenden sich häufig zunächst an einen Urologen oder suchen eine spezifische Sprechstunde zur erektilen Dysfunktion auf.

 

Hohe Dunkelziffer

Insgesamt ist nicht bekannt, wie viele Menschen von PSSD betroffen sind. Es ist allerdings von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da


  • das Thema schambesetzt ist. Viele Betroffene sprechen erst nach langer Zeit über ihre Probleme. Die Tatsache, dass die Beschwerden durch ein Psychopharmakon, also ein auf die Psyche wirkendes Arzneimittel, ausgelöst wurden, erhöht die Hemmschwelle, da viele Betroffene nicht offen über den Grund der Medikemanteneinnahme sprechen möchten - sowohl vor Ärzten als auch vor Freunden und Familienmitgliedern.


  • da die Mehrheit der Betroffenen die Erfahrung macht, dass ihre Beschwerden fälschlicherweise auf psychosomatische Ursachen zurückgeführt werden. Insbesondere in der Kommunikation mit Ärzten wird PSSD bislang leider in der Regel nicht ernstgenommen. Dies führt immer wieder dazu, dass Betroffene starke Verzweiflung und Hilflosigkeit empfinden.

Welche sexuellen Symptome können auftreten?

  • Reduktion oder Verlust von Libido bzw. sexuellem Verlangen
  • Reduktion oder Verlust der Sensibilität erogener Zonen (z. B. Eichel, Hoden, Brustwarzen, Klitoris, G-Punkt etc.)
  • Taubheitsgefühle in Penis oder Vagina („Genital Anesthesia“/genitale Hypästhesie)
  • Erektionsstörungen inkl. Ausbleiben der morgendlichen Erektion
  • reduziertes Spermavolumen bzw. veränderte Konsistenz oder Farbe der Samenflüssigkeit
  • reduzierte oder ausbleibende Lubrikation („Feuchtwerden“ bei Frauen) bzw. veränderter Vaginalausfluss
  • Missempfindungen/Schmerzen in Penis bzw. Hoden oder in der Vagina
  • Verkleinerung des Penis/der Hoden/der Klitoris


  • Schwierigkeiten, sexuelle Erregung aufrechtzuerhalten
  • Schwierigkeiten oder Unfähigkeit, einen Orgasmus zu erreichen (Anorgasmie)
  • weniger intensive oder komplett gefühllose Orgasmen, die nur Muskelkontraktionen auslösen


  • Ausbleiben erotischer Träume
  • ausbleibende Reaktion (z. B. Kribbeln/„Schmetterlinge im Bauch“) auf sexuelle Reize und Erinnerungen
  • Ausbleiben von oder Abneigung gegenüber sexuellen Fantasien und Reizen (Asexualität)

Welche nicht-sexuellen Symptome können auftreten?


  • Gefühl verminderter Intelligenz
  • Gedächtnisprobleme
  • Beeinträchtigung des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses


  • Ausbleiben von Träumen
  • Unfähigkeit, Freude zu empfinden (Anhedonie)
  • Unfähigkeit, Gefühle jeglicher Art wahrzunehmen ("Emotional Numbing")
  • Empathielosigkeit


  • Tics (Muskelzucken)
  • Muskelschwäche



  • reduzierter Geruchs- und/oder Geschmackssinn
  • veränderte Reaktionen auf Medikamente/Alkohol
  • starkes Schwitzen
  • Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus/Schlafstörungen

Welche Verlaufsformen sind bekannt?

Betroffene berichten von unterschiedlichen Verlaufsformen. Bei einigen Betroffenen scheint es Parallelen zu dem bekannten SSRI-Absetzsyndrom zu geben. Genauere Hintergründe sind bisher allerdings nicht bekannt. Grob betrachtet lassen sich die folgenden Typen unterscheiden, wobei bisher nicht gesagt werden kann, welcher Typus am häufigsten auftritt:

Typ A

  • erstmaliges Auftreten der Symptome während der Einnahme (teils sofort, teils schleichend)
  • Verschlimmerung der Symptome mit Dosiserhöhung
  • teilweise leichte Verbesserung bei Dosisreduktion bzw. mit und nach dem Absetzen

Typ B

  • erstmaliges Auftreten der Symptome während der Einnahme (teils sofort, teils schleichend)
  • Verschlimmerung der Symptome beim Absetzen (ähnlich wir bei einem Absetzsyndrom)
  • teilweise leichte Verbesserung nach dem AbsetzenNeuer Text

Typ C

  • erstmaliges Auftreten der Symptome beim bzw. kurz nach dem Absetzen
  • teilweise leichte Verbesserung über einen längeren Zeitraum nach dem Absetzen

Woher weiß ich, dass ich unter PSSD leide?

Die folgenden Kriterien können nur als Leitlinie verstanden werden, da bisher keine offiziellen Kriterien, z. B. nach ICD oder DSM, vorliegen.

  • Das sexuelle Empfinden war bis zur Einnahme des Medikaments insgesamt angenehm und normal.
  • Die Symptome traten erstmals a) während der Einnahme, b) beim Absetzen oder c) kurz nach dem Absetzens des Medikaments auf.
  • Die Symptome verstärkten sich a) mit der Erhöhung der Dosis oder b) beim bzw. kurz nach dem Absetzen (Hinweis auf Absetzsyndrom).
  • Kein anderes, weiterhin eingenommenes Medikament kann die Symptome verursachen.
  • Es liegt keine andere Erkrankung vor, die eine Erklärung für die Symptome liefern würde. 
  • Die Symptome treten situationsunabhängig und dauerhaft auf.

Was spricht dagegen, dass ich unter PSSD leide?

  • Die sexuellen Symptome treten nur in bestimmten Situationen auf, z. B. mit einem neuen Partner/einer neuen Partnerin. Dies deutet stark (!) darauf hin, dass die Ursache im psychischen Bereich liegt.
  • Die sexuellen Symptome treten bei der Selbstbefriedigung nicht auf, beim Geschlechtsverkehr mit Partner/in aber schon. Dies deutet stark (!) darauf hin, dass die Ursache im psychischen Bereich liegt.
  • Bereits vor der Einnahme des Medikaments bestanden Hemmungen oder Unsicherheiten bezüglich der eigenen Sexualität.
  • Es bestehen weitere Krankheiten (Komorbiditäten), die eine sexuelle Dysfunktion bzw. die nicht-sexuellen Symptome erklären könnten.
  • Die Symptome treten mit großem zeitlichem Abstand zur Einnahme bzw. zum Absetzen auf. Wie oben unter Verlaufsformen beschrieben treten die Symptome bei einigen Betroffenen während oder kurz nach dem Absetzen auf. Es könnte sich hierbei um eine Unterform des Absetzsyndroms handeln. Wenn jedoch Monaten nach dem Absetzen immer neue Symptome auftreten, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass diese in Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme stehen.
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